Grenzen und Begrenztheit

(Lesedauer ca. 4 Minuten)

Sollen wir Grenzen setzen und dadurch uns und andere kontrollieren? Oder geht es darum, die eigene Begrenztheit anzuerkennen?

In der Wochenzeitung „Die Zeit“ (Nr. 10 vom 27.2.2020) bin ich gerade auf 2 anregende Artikel gestoßen, in denen das Thema „Grenzen“ angesprochen wurde. Daher lege ich in einer Vertiefung zum Beitrag von vorgestern hier noch etwas ausführlicher nach.

Grenzen oder Begrenztheit?

Petra Holler schreibt (S. 62), dass „Am Ende sowieso niemand an der Erfahrung der Begrenztheit vorbei kommt. Spätestens wenn man das erste Mal körperlich schwer krank wird oder jemand Wichtiges stirbt, muss man sich damit auseinandersetzen, dass eben doch nicht alles möglich ist. Aber wir leben in einer zunehmend entgrenzten Welt. Nicht nur moralisch, sondern auch politisch, geografisch und technologisch. Wer nicht verlogen gehen will, muss selbst Grenzen setzen.“

Puh, welche Vermischung von den Konzepten „Grenzen setzen“ und „Begrenztheit erleben“. Gerade so in einen Topf geworfen.

Begrenztheit ist eine Grunderfahrung des Menschen

Ja, Begrenztheit ist eine Grunderfahrung des Menschen. Krankheit, Tod oder einfach die Naturgesetze zeigen uns unsere Begrenzungen. Ob das schmerzlich ist oder nicht, hängt an der Haltung und an der Reife des Menschen. Menschen, die auf diese Begrenzungen des Lebens stoßen, gehen damit sehr unterschiedlich um, manche leiden darunter, andere nicht. Ich habe viele unterschiedliche Erfahrungen selbst gemacht und bei anderen beobachtet.

Wir setzen Grenzen, um Kontrolle zu erleben

Grenzen zu setzen, um „nicht verloren zu gehen“, scheint mir aber der Wunsch nach Kontrolle zu sein. Hier geht es darum, eine Grenze zu setzen, um die drohende Begrenztheit doch nicht zu spüren. Später scheint der Autorin noch zu dämmern, dass es auch gut sein kann, „Aus(zu)halten, dass man nicht alles im Leben kontrollieren kann.“ Das meint wohl, die Begrenztheit auszuhalten.

Begrenztheit hat keinen Sinn, sie ist einfach

Hat die Begrenztheit ihren Sinn? Sinn oder nicht: Sie ist einfach! Ich kann schlicht nicht mehr als 3-7 Tage ohne Wasser auskommen. Ich kann nicht einfach ohne Schlaf über Wochen durcharbeiten. Wir können freilich versuchen, Begrenztheiten zu verändern, was manchmal die Ausmaße eines Optimierungswahns annimmt („Mit wie wenig Schlaf komme ich eigentlich aus?“).

Begrenztheit annehmen oder austesten?

Oder wir können Begrenztheiten annehmen. Menschen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Begrenztheiten immer wieder austesten und in Frage stellen. Das führt zu Entwicklungen, die manchmal im Nachgang auch als Fehlentwicklungen gewertet werden können. Wir können fliegen lernen und abstürzen. Wenn wir jünger sind, testen wir die Grenzen aus. Und je älter wir werden, desto mehr tendieren wir dazu, Begrenzungen anzunehmen. Ikarus, der junge Sohn, stürzt beim Himmelssturm ab, Dädalus überlebt den Flug. So lehrt es der griechische Mythos mit warnendem Zeigefinger. Und immer klagen die Alten über die Jungen, die den Mut und die Tollkühnheit aufbringen, Begrenztheit austesten, das hat eine Tradition von Jahrtausenden. (Irgendwie bin ich gerade so am Übergang, mit immer mehr Einsicht in die Begrenztheit, aber mit noch genügend Lust, auch noch etwas auszuprobieren…)

Grenzen setzen, um angstvolle Begrenztheit nicht zu spüren

Geht es beim Setzen von Grenzen nicht meist darum, die Begrenztheit nicht zu spüren? Um Kontrolle zu haben? Um Angst zu vermeiden? Werden nicht deswegen seit alters her Gesetze und Grenzpfosten aufgestellt?

Je bedrohter sich jemand fühlt, desto eher sehnt er/sie sich nach Grenzen, Regeln und Ordnungen. Das kenne ich gut von mir. Das sehe ich bei anderen. Wenn ich unter Stress komme, ist eines meiner Stressmuster, über das Pochen auf Ordnung und Regeln die Kontrolle wieder zu erlangen. Zum Glück für mich und meine nahe Umgebung greife ich weniger und weniger darauf zurück, was sich wie eine gute Entwicklung anfühlt.

„Zu wenig Körperkontakt“

Antonia Baum zitiert in einem Artikel („Zu wenig Körperkontakt“) der gleichen Zeitung (Seite 51) den Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit. Er beschreibt einen Zusammenhang zwischen den Mangelerfahrungen in der Kindheit mit fehlendem Körperkontakt und Erfahrungen von körperlicher und verbaler Gewalt und Verlassenheit, also z.B. indem man ein Baby schreien lässt, und den Wünschen nach engen Grenzen z.B. in Hierarchien und durch Drill, um seinen Ängsten zu entkommen. Für ist Faschismus ein Körperzustand mit nur draufgeklebter schwachsinniger Ideologie.

Da haben wir es wieder: Grenzen werden gesetzt, um Ängste in den Griff zu bekommen. Um inneren Bedrohungen etwas entgegen zu setzen, die mit schwachen Ich-Strukturen zu tun haben, werden äußere Grenzen aufgestellt und gefordert: Politisch, moralisch, geografisch und und und.

Mit Humor Begrenztheit erleben

Ich glaube, dass es gut und notwendig ist, Begrenztheit zu erleben und zu spüren. Es ist auch wichtig und legitim, die Begrenztheit zu testen, also auszuprobieren, wie weit man mit sich gehen kann. Das macht sogar Freude, wenn man dann auch humorvoll mit der Begrenztheit umgeht. Wie oft lachen wir in der Familie, wenn etwas nicht gelingt! Und sich im besten Falle nicht gefährdet, obwohl sogar das manchmal notwendig ist, sonst hätten wir z.B. nie den Luftraum für uns Menschen zum Fliegen erobert. Die Begrenztheit ändert sich mit dem Altern ständig, und auch diese Erfahrung muss man selbst machen.

Kontrolle erforschen und sich dem Leben überlassen

Was Kontrolle anbelangt, ist es gut, zu erkennen, wie man sie einsetzt, und wie man der Illusion entkommt, alles im Leben kontrollieren zu können. Auch ohne ausgeprägte Sehnsucht nach Kontrolle angstfrei und lebendig zu bleiben. Das ist ein schönes Forschungsgebiet der Psychotherapie. Dazu gehören dann Erfahrungen von Vertrauen in sich und in die Welt, oder auch das Einlassen auf prinzipiell nicht Kontrollierbares – wie z.B. eine Beziehung – , indem man sich dem Lauf des Lebens überlässt, das (vermeintlich) Gutes und Schlechtes mit sich bringt.

Das Einlassen, das ich Hingabe an das Leben nenne.