Hunger und Einsamkeit – Essen und Geborgenheit

(Lesedauer ca. 2 Minuten)

Emotionen und Essen hängen eng miteinander zusammen, wie jeder an sich beobachten kann: Kontakt macht auch satt

Zu dick

Wenn sich Menschen bei mir über ihr Essverhalten beklagen – natürlich nur, wenn sie zu viel essen oder zumindest zu viel wiegen – erzähle ich ihnen meist eine ihnen bestens bekannte Geschichte:

Der Mangelschock nach der Geburt

Vor langer Zeit, als wir geboren wurden und die uns mit allem versorgende Nabelschnur durchtrennt war, passierten neue und ungewohnte Dinge mit vollkommen fremden Gefühlen in uns. Wir hatten irgendwann einmal diesen bis dahin unbekannte Schmerz im Bauch (vielleicht fühlt ein Säugling ihn am ganzen Körper?). Also fingen wir an unruhig zu werden, bis wir sogar schrieen. Vielleicht waren wir zu diesem Zeitpunkt auch in einer Krippe (oder Bett) und wurden nicht getragen.

Süße Muttermilch und Hautkontakt

Jemand hörte uns schreien und es geschahen ein paar Dinge gleichzeitig: Wir bekamen eine Brust zu schmecken, und zusammen mit unserem angeborenen Saugreflex führte die herrlich süße Milch zu einem ungeahnten Wohlsein im Bauch. Außerdem waren wir ganz nah dran an der Haut der Mutter, ihrer Wärme, ihrer Stimme und wurde sogar liebevoll angeschaut. Der Schmerz – im Bauch und auf der Haut oder wo immer – verschwand. Wir waren selig, bis wir genauso einschliefen.

Erregung vor der Erfüllung

Später führte diese Kombination sogar zu einer Erregung, die den ganzen Körper erfasste, wenn wir mit dem Hunger- und Einsamkeitsgefühl die Brust schon sahen und unser Körper in eine aussichtsreiche Position der nahenden Befriedigung gehoben wurde. Und diese Erregung strebte einer ungemein befriedigenden Erfüllung entgegen. Es war wie eine ganzkörperlich gefühlte Sexualität, Erotik, Lebendigkeit.

Geborgenheit und Sattheit fallen zusammen

Jetzt, viele Jahre später, sind diese damals erlebten Zusammenhänge von Haut- und Körperkontakt, erst erregten und dann befriedigten Gefühle, von Geborgenheit und Sattheit, Verbundenheit und Entspannung, immer noch wirksam. Wenn nicht sogar angeboren, sind diese gemeinsamen Erlebnisse bis zum Tod fest in uns als zusammengehörig verdrahtet.

Essen und Kontakt können sich gegenseitig zeitweise ersetzen

Wenn wir jetzt essen, erzeugt das in uns die gleichen Gefühle von Befriedigung und Geborgenheit, von emotionaler Versorgung und Lebendigkeit. Da damals alles ein einziges Erleben war, erleben wir heute auch mit nur einem Teil davon die ganze Kombipackung wieder. Deswegen ist fasten und abnehmen so schwierig. Deswegen ersetzen wir Einsamkeit mit oraler Befriedigung (essen, kann auch rauchen und trinken sein). Und umgekehrt: Wenn wir durch körperliche Nähe, Hautkontakt und Sex total befriedigt sind, sind wir tief satt und verspüren nur den Hunger, der tatsächlich dazu da ist, uns mit notwendigen Nährstoffen zu versorgen, keine Gier darüber hinaus.

Dopamin, Substantia nigra und Sucht

Heute war im Ärzteblatt online zu finden, dass Forscher nun herausgefunden haben, dass eine bestimmte Stelle im Gehirn (die Substantia nigra im Mittelhirn, die über Dopamin angesteuert wird) in gleicher Weise reagiert, wenn wir Hunger haben und wenn wir uns einsam fühlen. Diese Stelle wird auch mit dem Verlangen nach Suchtmitteln in Verbindung gebracht.

Es hätte wohl keiner amtlichen neurophysiologischen Bestätigung bedurft um klar zu stellen, dass Kontakt und Geselligkeit genauso ein Grundbedürfnis ist wie Essen und Trinken, und beides durch Ersatzbefriedigungen mit Suchtmitteln ausgeblendet werden kann. Doch es ist auch ein gutes Gefühl, wenn die Erkenntnisse gut mit dem zusammen passen, was wir sowieso schon immer wussten.