Geschichten und Leiden

(Lesedauer ca. 3 Minuten)

Wir erzählen einander Geschichten über uns, die uns aus dem Hier und Jetzt herausführen, um uns ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Der Preis dieser Kontrolle ist der Verlust von Lebendigkeit, Freiheit und gewünschter Veränderung.

Diesen Text habe ich neulich den Teilnehmern einer Gruppentherapie zugestellt, die mich sehr zum Nachdenken angeregt hat. Er ist auch ein Niederschlag meiner Begegnungen mit Jesper Hejl vom Mahamudrainstitut.

Geschichten und Leiden

„Liebe Gruppenteilnehmer

Die Geschichte von einem Apfel ist nicht der Apfel. Die Beschreibung eines Apfels ist nicht der Apfel. Ich kann die Geschichte nicht essen.

Eine Geschichte von sich erzählen

Die Geschichte, die E. von sich erzählt, ist nicht E. Wenn mir E. eine Geschichte erzählt, lädt sie mich ein, mich auf diese Geschichte zu beziehen, nicht auf E. selbst. Das schafft Leiden. Dabei ist es völlig egal, ob es sich um eine schöne oder eine schreckliche Geschichte handelt. Auch eine schöne Geschichte legt uns fest und behindert Bewegungsfreiheit („Ich war so stolz auf mich, das wäre ich gerne wieder“). Dies ist der Grund, warum ich immer wieder einlade, nicht (nur) Geschichten von sich zu erzählen, sondern von dem Erleben im Hier und Jetzt zu berichten, sich zum Beispiel zu seinen Gefühlen zu äußern. Ich lade auch immer wieder ein, im Hier und Jetzt (der Gruppe) etwas zu tun, zum Beispiel ein Experiment, eine tatsächliche Begegnung zu wagen. 

Im Augenblick präsent sein

Wir sitzen in einem Raum, und können uns aufeinander beziehen, einfach miteinander sein oder etwas miteinander tun. Das würde ich dann Leben oder Lebendigkeit nennen. Gestern war dieser Unterschied schön zu sehen, als ich verschiedene Teilnehmer aufforderte, auszudrücken, wie sie sich aktuell auf E. beziehen, ohne ihre Geschichte zu kennen. Es reichte völlig aus, dass sie (E.) mit ihrer körperlichen und emotionalen Präsenz im Raum ist. Es reicht präsent zu sein! Ja, es reicht präsent zu sein, wenn wir uns aufeinander beziehen wollen. 

Eine Geschichte soll Kontrolle vermitteln, Leben lässt sich aber nicht kontrollieren

Wenn wir etwas von uns erzählen, kann das helfen, im Hier und Jetzt zu sein. Es hilft am meisten, von dem zu erzählen, was jetzt ist. Indem wir aber Geschichten von uns erzählen, legen wir ganz viel fest, wir binden uns damit auf eine gewisse Weise. Eine Geschichte lädt uns ein, sich auf sie zu beziehen. Damit erlangen wir Kontrolle, was auch der Grund ist, das so zu tun. „Sieh was für eine stolze Frau ich bin“. Wenn die Geschichte nicht so gut ausfällt („Ich bin so einsam“), kommt dies einem Kontrollverlust gleich, wieder entsteht Leiden, und wir alle versuchen mehr oder weniger verzweifelt, die Kontrolle zurückzugewinnen. Leben lässt sich aber nicht kontrollieren. Was tun?

Im Experiment wird deutlich, dass sich E. über eine bestimmte Berührung mit mir freut. Damit diese Berührung zustande kommt, muss es eine gewisse Bewegungsfreiheit geben. Zum Beispiel, indem ich zu E. hinüber gehe, aber auch, indem sie in ihrer Bewegungsfreiheit die Berührung zulässt. Leiden entsteht, wo ich mir diese Bewegungsfreiheit nicht zugestehe.
Leiden entsteht auch, wo ein Nein nicht erlaubt ist. Ich frage E., ob die Berührung o. k. ist, und es ist gut, wenn sie Ja oder Nein sagen kann. Als erwachsene Frau kann sie sogar Nein sagen, wenn ich nicht frage! 

Es geht also um Spüren, Bewegungsfreiheit und die Fähigkeit, Ja und Nein zu sagen.

Viele Möglichkeiten, Leiden zu schaffen

Damit sind aber die Möglichkeiten, Leiden zu erschaffen, noch nicht beendet! Denn ohne weiteres kann sich jeder wünschen, eine bestimmte Situation oder ein bestimmter Zustand möge andauern. Dann gehe ich zum Beispiel nach Hause und denke darüber nach, wie schön das eben (das letzte Jahr, vor 20 Jahren) war, dass ich das gerne wieder hätte, dass es einfach Mist ist, dass es jetzt nicht so ist. Und schon leide ich. Schon erzähle ich wieder eine Geschichte (die von meinem Zustand eben etc.) und habe Sehnsucht. Um in diesem Sehnsuchtszustand zu bleiben, ist es besonders wichtig, keine aktuellen Bewegungsmöglichkeiten auszuloten, seien sie auch noch so geringfügig.

Hinsehen ermöglicht andere Bewegungen

Wir alle machen dies so, ohne jede Ausnahme. Ich will auch gar nicht sagen, dass dies falsch sei. Es ist so, wie wir es machen. Ich meine einfach, es ist gut, wenn wir genau sehen, wie wir es machen. Das genaue Hinsehen ermöglicht eine Veränderung, wenn wir eine Veränderung wünschen. Dafür hilft es, wenn wir hinspüren, wahrnehmen, Bewegungsfreiheit ausloten, Ja und Nein sagen lernen.

Ihr seid herzlich eingeladen, dies zu kommentieren und es zu hinterfragen, nicht, es zu glauben!“