Von Pseudoautonomie zu Autonomie

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Autonomie ist eine feine Haltung. Was unterscheidet Pseudoautonomie davon?

Der Wunsch nach Autonomie scheint ganz natürlich in uns angelegt. Schon kleinste Säuglinge zeigen Abwehrbewegungen, um eine Distanz von der Mutter herzustellen. Dies gehört genauso zur Entwicklung wie die Hinwendungen zu den Bezugspersonen, um Geborgenheit und Schutz zu suchen.

Verlassenheitsangst einer Bezugsperson

Manchmal ist es für die Bezugspersonen schlecht zu ertragen, wenn ein Kind Autonomie sucht. Es kann z.B. sein, dass das Sich-weg-bewegen eines Kindes Verlassenheitsängste und damit auch Verlassenheitswut bei der Bezugsperson auslöst. Dies ist normalerweise unbewusst, führt aber zu Reaktionen: Die Autonomie des Kindes wird offen oder durch Manipulation in versteckter Form gebremst. Hier sind dann Konflikte gebahnt: Kinder können unter Beobachtung scheinbar kooperieren, um unbeobachtet dann über die Stränge zu schlagen. Oder sie können auch eine ängstlich-vermeidende Haltung entwickeln.

Überforderung

Wenn Kinder keinen Halt bei den Bezugspersonen finden, somit emotional allein gelassen und früh überfordert werden, kommt es häufig zu einer Entwicklung, die man mit dem Begriff „Pseudoautonomie“ versucht zu beschreiben. Hier sind die Kinder auf der äußerlich sichtbaren Ebene sehr autonom und selbständig. Unsicherheit wird so weit nach hinten geschoben, dass sie nicht mehr bemerkt wird.

Brüchigkeit

Bei Patienten fällt mir bei solchen Entwicklungen auf, dass sie selbständig und kompetent erscheinen. Es wird aber auch eine Brüchigkeit spürbar, die sich vor allem in dem ausdrückt, was nicht geschieht:

Die Patienten fragen z.B. selten nach, und vor allem bitten sie nicht um Hilfe. Keineswegs wollen sie zur Last fallen. Sie vermeiden es, Unsicherheit zu zeigen und präsentieren eine Art kompetenter Schutzhülle. Mit einer solchen Schutzschicht ist aber eine Verbindung viel schwieriger herzustellen, was ich als Gegenüber als eine Hemmung im gefühlten Kontakt wahr nehmen kann. Gefühle, die etwas von einem tieferen Innen zeigen könnten, werden vermieden, sowohl im Ausdruck nach Außen als auch im Fühlen. Das hat dann zur Folge, dass alles bestens erscheint, denn man fühlt ja auch nichts Unangenehmes.

Einsamkeit und Depression

Dann und wann aber wird auch den Patienten die Brüchigkeit klar. Sie fühlen sich z.B. häufiger einsam, leiden unter depressiven Einbrüchen und erkennen auch, dass Kontakt nicht die erwünschte Verbindungsqualität haben. Romantische Gefühlsstürme erweisen sich als kurzlebig und bei genauerer Betrachtung nicht als Kompensation geeignet. Die Patienten leiden auch unter einer Flachheit, denn sie ahnen, dass ein tieferes Dasein in Lebendigkeit möglich wäre.

Mit der Abhängigkeit spielen und tanzen

Autonomie ist vor allem eine Kunst der Abhängigkeit. Es ist wie mit der Schwerkraft: Bewegungskunst und Bewegungsfreude ist ein Spiel mit der Schwerkraft. Lebenskunst und Lebensfreude ist ein Spiel mit dem Angewiesensein. Wer autonom ist, erkennt seine Abhängigkeit leicht an. Er kann fragen, Hilfe erbitten und annehmen, sich über Unterstützung freuen, ohne sich als eine Belästigung zu empfinden. Es ist ein wie ein Tanz mit Abhängigkeiten. Dieser Tanz führt zu Geborgenheit und Verbundenheit.

Entwicklung zur Autonomie in der Therapie

Die Entwicklung zur Autonomie gelingt in der Therapie über die Wahrnehmung schmerzlicher Gefühle. Es ist ein gewaltiger Sprung, wenn Wut und Traurigkeit und Schmerz unmittelbar gefühlt werden und fließen können. Dabei geht es nicht ums Ausagieren, sondern ums Wahrnehmen. „Ah, so ist es in mir, so fühlt es sich an.“ Der Weg geht weg von der Vermeidung solcher Zustände. Manchmal ist unklar und oft sogar gar nicht wichtig, woher genau diese Gefühle kommen. Es reicht, dass sie präsent sind. Die Konsequenz, diese Gefühle zu spüren, ist Lebendigkeit, die in krassem Unterschied zu Depression oder Gehemmtheit erlebt wird. Der Kontakt mit einem Gegenüber, das anwesend ist, führt zu einem Halt, zu einer Geborgenheit. Ich selbst habe es immer, auch vor wenigen Wochen erst wieder, als äußerst hilfreich erlebt, im Kontakt mit anderen Gefühle zu benennen, und so zu mir selbst zu stehen.

Zu sich selbst stehen statt sich schämen

Hier spielt Scham eine wesentliche Rolle, die ja im Alltag dazu anleitet, sich nicht so zu fühlen, wie es in einem aussieht, und sich auf gar keinen Fall so zu zeigen. Scham und Pseudoautonomie hängen eng miteinander zusammen. Deswegen ist es ein bedeutender Schritt, wenn diese Scham als hinderlich und hemmend erkannt wird. Die Scham schlägt vor: „Zeig Dich nicht, verstecke Dich, präsentiere Deine perfekte Fassade!“

Einen anderen Weg einzuschlagen, bedeutet, seinen Mut zusammennehmen und sich seinem Schmerz zu stellen. Es bedeutet, sich zu sich selbst zu bekennen, zu sich zu stehen, und damit sich selbst nahe sein.

Das ist ungeheuer befreiend. Wie oft enden solche Therapiesitzungen in Lachen und ausgelassener Freude!