Ist biografische Arbeit in der Psychotherapie wichtig?

(Lesedauer ca. 4 Minuten)

Manchmal denken Menschen, da sie in der Kindheit geprägt werden, ist ihr Zustand fast unveränderbar. Wie kann man damit in der Psychotherapie umgehen?
Ein 5-stufiger Prozess im Hier und Jetzt der Therapie

Veränderung in der Psychotherapie

In der Psychotherapie geht es um Veränderung. Und zwar nicht um die Veränderung der anderen. Die machen ohnehin, was sie wollen. Nein, es geht um die eigene Veränderung! Wenn die anderen sich dann auch verändern – und das ist nicht einmal unwahrscheinlich – , werden die Karten neu gemischt und man schaut, was folgt.

Ich stelle hier ein einfaches Modell für einen typischen Veränderungsprozess in der Psychotherapie vor, in dem ich beschreibe, wie ich selbst im Hier und Jetzt der Therapie gerne arbeite.

1. Ein problematisches Gefühl oder Verhalten im Hier und Jetzt entdecken

Eine (hier nur beispielhaft ausgedachte) Patientin, die wegen wiederkehrender depressiver Abschwünge in der Gruppentherapie ist, leidet an Gefühlen von Einsamkeit und Verlassenheit.

Zu irgendeinem Zeitpunkt wird deutlich, dass sie sich auch in der Gruppe einsam fühlt. Es kann mir und anderen z.B. auffallen, dass sie sich nicht beteiligt, wegschaut und auch irgendwie traurig und verbittert aussieht.

Ich frage sie dann in dem Augenblick, in dem mir das auffällt, wie sie sich fühlt. Mir geht es um das Gefühl im Hier und Jetzt der Gruppentherapie. Wenn das Gefühl nicht völlig klar ist, und es schon wegen der schieren Gewohnheit daran nicht differenziert beschrieben werden kann, unterstütze ich die Patientin. Ich frage dann nach Gefühlen von Verbundenheit, von Unterstützung, von Teilnahme und Teilhabe, von Nähe und Aufgehobensein.

Die Patientin antwortet dann vielleicht, dass sie sich allein, ausgegrenzt und einsam fühlt.

2. Im Hier und Jetzt bleiben: „Wie hast du dein Gefühl jetzt gemacht?“

Diese Frage „wie hast Du das denn jetzt hinbekommen, dich mitten unter uns – in der dieser Gruppe mit 8 anderen Menschen – einsam zu fühlen?“ ist meist überraschend und quasi immer überfordernd. „Was soll das heißen, ich habe das gemacht? Nichts habe ich gemacht! Es ist einfach mein Gefühl!“

Hier führe ich ein Konzept ein, in dem ich den Patienten vorschlage, alles, was sie erleben, als etwas zu sehen, was sie selbst konstruieren oder produzieren. Natürlich stimmt das in dieser Reinform nicht. Aber um sich genau anzusehen, was der eigene Beitrag zu den Gefühlen ist, erscheint diese Sicht überaus hilfreich. Die meisten Patienten lassen sich auf diese Gedanken ein, vor allem, nachdem sie schon eine Weile da waren und Vertrauen in die Therapie bekommen haben.

Die Patientin kann z.B. entdecken, dass sie sich vergleicht, dass sie neidisch und eifersüchtig wird, dass sie niemanden mehr anschaut, dass sie ihre Gefühle versucht zu verbergen und dass sie sich dafür schämt. Dies und vieles andere mehr können wir gemeinsam im Gespräch und mit den Selbstoffenbarungen der anderen Gruppenteilnehmer, die alle etwas ähnlich kennen, herausarbeiten. Die Patientin wird schon dadurch unterstützt, dass sie nicht alleine mit ihren Erfahrungen ist, was sie dabei unterstützt, sich selbst – ihr Inneres und ihr Verhalten – zu sehen.

Ohne dieses Sehen und Erkennen kann der Veränderungsprozess nicht gelingen. Das Sehen der eigenen Muster ist essentiell und absolut notwendig. Es führt dazu, die Selbstverantwortung anzuerkennen. So wird dem Empfinden, ein Opfer von unbekannten Prozessen oder äußeren Umständen zu sein, entgegen gewirkt.

Manchmal reicht es schon aus, das Muster nur zu sehen, und dann ändert es sich quasi von alleine. Vor allem, wenn man bemerkt, dass es schmerzhaft ist, was man da veranstaltet: „Was, so also tue ich mir weh, so also mache ich mir diese Schmerzen! Dann lasse ich es halt!“ So ist das ja auch, wenn man wahr nimmt, dass einem mit einer gewissen Position der Beine die Füße einschlafen: Sobald man es bemerkt, ändert man es.

3. Eine neue Erfahrung im Hier und Jetzt ermöglichen

Direkt im Anschluss an diese Erkenntnis ist eine Tür geöffnet. Es bietet sich an, hier für eine neue Erfahrung einzutreten. Als ungeduldiger Therapeut, der sich vom Macher-Modus immer noch nicht so recht verabschieden mag, liegt mir daran, diesen Raum zu nutzen.

Im Fall der Einsamkeit schlage ich in der Regel vor, das Gefühl wahr zu nehmen, das jetzt nach der Besprechung in der Gruppe neu entstanden ist. Fast immer bemerkt die Patientin, dass sie sich mehr als zuvor als ein Teil der Gemeinschaft fühlt.

Oft lade ich direkt noch zu weiteren Experimenten ein („Wenn nicht jetzt, dann wann!“): Vielleicht fordere ich die Patientin auf, mit jedem in der Runde Augenkontakt aufzunehmen. Und dabei auch zu spüren, ob sie sich dabei abgelehnt oder angenommen fühlt. Ob sie bemerkt, dass die anderen Interesse an ihr haben oder gelangweilt sind. Und anderes mehr, was im speziellen Fall angemessen erscheint.

Es ist nicht schwer vorher zu sagen, dass die Patientin dabei in der Regel gute Erfahrungen machen wird. Sie darf aber dieses Experiment jederzeit abbrechen, dann manchmal ist das schon ziemlich überwältigend, und man muss Rom ja nicht an einem Tag erbauen.

4. Übungen für den Alltag konstruieren

Im Anschluss macht die Gruppe der Patientin Vorschläge für Übungen und Experimente im Alltag. Wegen der gerade erlebten guten Erfahrungen besteht oft eine große Bereitschaft, wenigstens bestimmte Beobachtungsaufgaben mit in das Alltagsleben zu nehmen. Wir konstruieren aber vielleicht auch Verhaltensexperimente und tägliche Übungen. Das könnte z.B. in diesem Fall sein, im Alltag mit Augenkontakt zu experimentieren und die Gefühle dabei wahr zu nehmen.

Auf die Frage, ob es hilfreich wäre, die Erfahrungen beim nächsten Treffen aufzugreifen, kommt meist ein „Ja“. Jemand in der Runde meldet sich als Freiwilliger, in der nächsten Gruppensitzung nach den Erlebnissen mit den neuen Möglichkeiten zu fragen. Das wird kaum je als Kontrolle, sondern als Unterstützung erfahren. Wenn sich jemand kontrolliert fühlt, unterlassen wir es, nachzufragen.

5. Biografische Arbeit

Nach meinen Beobachten macht es erst jetzt Sinn, die Frage nach dem Ursprung der problematischen Gefühle zu stellen. Ob man sie gültig beantworten kann, ist sowieso dahin gestellt:

Das Gefühl „ich fühle mich nicht geliebt“ kann z.B. mindestens aus 2 Richtungen stammen:

a. Vernachlässigung: Es gibt nicht genug Liebe und deswegen braucht es mehr davon.
oder
b. Verwöhnung: Es besteht eine zu große Abhängigkeit von Liebe.

Beides kann seinen Ursprung in der Kindheit haben. Nicht immer ergibt sich völlig klar, wie genau der Hund in der schlechten Kindheit begraben liegt. Es kommen ja auch wilde Mischungen vor, die nicht leicht oder gar nicht auseinander zu dividieren sind.

Bei der biografischen Einordnung der jetzigen Gefühle und Verhaltensweisen geht es aber gar nicht so sehr darum, ob sie richtig gelingt, sondern um den Prozess, sich selbst mehr und mehr zu verstehen und dann immer mehr Mitgefühl mit sich zu entwickeln.

Das ist aus meiner Sicht entscheidend!

Und daher ist auch die Reihenfolge so wichtig: die biografische Arbeit soll am Ende stehen, damit sie das Mitgefühl unterstützt, und nicht das schwere und lähmende Gefühl verstärkt, dass man so tief in seinen alten Prägungen und Kindheitstraumata feststeckt, dass man sowieso schon fast nichts mehr daran ändern kann.

Für das Selbstmitgefühl ist die biografische Einordnung des eigenen Erlebens nicht wirklich notwendig. Man kann auch mit sich selbst Mitgefühl entwickeln, wenn man sein eigenes Leiden versteht und nicht länger im Selbst-Mitleid – das ist das Beklagen über das miese Gefühl als Opfer dieses schlechten Zustandes – verharrt.