Zu kurz gekommen: Folge von Vernachlässigung oder Verwöhnung?

(Lesedauer ca. 4 Minuten)

Das Gefühl oder die Überzeugung, zu kurz gekommen zu sein, ist schwer auszuhalten. Deswegen fügen sich Wut, Trotz, Ablehnung, Rückzug und Verachtung wie ein Bollwerk darum herum, um dieses Gefühl nicht so sehr zu spüren oder sich zumindest dagegen zu wehren (siehe auch „abgewehrte und abwehrende Gefühle“). Womit ist das Gefühl zu kurz zu kommen verbunden?

Selbstmitgefühl lässt Selbstmitleid schmelzen

Manchmal erlebe ich Menschen, die in aufrichtigem Selbstmitgefühl erkennen, dass sie zu gewissen Zeiten in ihrem Leben (oder auch aktuell) zu kurz gekommen sind. Es kann sich dabei um Vernachlässigungen handeln, die sie als Kinder erlebten. Bei diesem Verständnis für sich selbst fallen dann nach und nach die Vorwürfe gegen andere weg, und so kommen sie Kontakt mit einer reinen Traurigkeit. Die verständliche Wut, die durchaus eine Rolle spielen kann, schwindet mit zunehmendem Selbstmitgefühl.

Bei dem Zustand, den ich Selbstmitleid nenne, bleiben Wut und Vorwürfe bestehen.

Selbstmitgefühl ist eine Form von Liebe, die eine Traurigkeit über bestimmte Geschehnisse einschließen kann (z.B. einen Verlust wie den Verlust von Gesundheit), und eine gewisse Gelassenheit und innere Freiheit öffnet. Deswegen steigen wir mit diesem Selbstmitgefühl aus dem Opferdasein aus. Mit dem Selbstmitgefühl verschwindet sozusagen das Selbstmitleid, und wir können Ideen entwickeln, wie wir als Erwachsene gut mit uns umgehen können.

Verwöhnung kann so folgenreich sein wie Vernachlässigung

Manchmal erlebe ich Menschen, die kleben an hohen Ansprüchen und Forderungen, die sie an andere Menschen haben. Das kann von Verwöhnungen herrühren. Verwöhnung eines Kindes (seitens der Eltern) geht oft einher mit Überfürsorglichkeit und Kontrolle und führt nach dem Heranwachsen beim Erwachsenen zu einem andauernden Gefühl, nicht zu bekommen, was man braucht. Das ist verbunden mit einer Hilflosigkeit und Unselbständigkeit (direkte Folge von zu viel Kontrolle und Fürsorge), die dann andere für den eigenen Zustand verantwortlich macht und an andere appelliert, doch etwas zu ändern.

Aber auch hier können wir meist die wichtigen Bedürfnisse, die verletzt wurden oder werden, herausarbeiten, so dass wir einen Zugang zu dem wesentlichen Kern finden, der sich nach Liebe sehnt und einfach nicht weiß, wie das geschehen kann, dass man sich hier (in sich, in diesem Leben, auf dieser Erde) satt und wohlig fühlt.

Als ich selbst ein Kind war, hatte mein Vater einmal erwähnt, dass es später im Leben leichter sei, mit den Folgen von Vernachlässigung umzugehen als mit den Folgen von Verwöhnung. Als Psychotherapeut muss ich dem heute zustimmen. Durch die Verwöhnung und übermäßige Kontrolle wird man als Kind leicht in ein stetiges Opferdasein eingeladen, und man muss sich nur umschauen, um allenthalben zu erkennen, wie viele die Schuld für so ziemlich alles bei anderen suchen – und so in der Opferhaltung verharren. „Die anderen müssen mir das geben und jenes tun! Sonst kann es mir nicht gut gehen.“

Karin Stark-Schwehn erwähnt in ihren pädagogischen Vorträgen vor Eltern und Erziehungsfachkräften, dass es bei Verwöhnung und Vernachlässigung von Kindern um einen Mangel an Beziehungsangebot geht:

„Verwöhnung ist …
Ein Mangel an Beziehungsangebot, stattdessen alles Materielle bekommen, alles dürfen.

Vernachlässigung ist …
Ein Mangel an Beziehungsangebot und ein Mangel an kindbefürnisgerechter Fürsorge, Setzen von Grenzen und Einräumen von Freiheiten.“
(Vortrag von Karin Stark-Schwehn zur Entwicklung im 3. Lebensjahr, zuletzt 2018)

Säuglinge können nicht verwöhnt werden

Vielleicht ist noch wichtig zu erwähnen, dass Säuglinge und Kinder bis mindestens zum 1. Geburtstag nicht verwöhnt werden können: Sie empfinden nur ihre natürlichen Bedürfnisse und melden sie eben durch z.B. Schreien an. Es geht ihnen nie um Manipulation oder darum, ihre Bezugspersonen zu triezen. Ihre Bedürfnisse sollten einfach respektiert und erfüllt werden. Wenn sie getragen werden wollen, werden sie eben getragen etc. Man kann sie aber über Frustrationen dressieren, dass sie z.B. aufgeben, zu schreien. Diese Frustrationen sind nicht kindgerecht oder altersangemessen und können erst später in angemessener Art verarbeitet werden. In dem Sinne ist eine Dressur, wie sie in dem Bestseller „Jedes Kind kann schlafen lernen“ vermittelt wird, eine Anleitung zur Produktion einer Bindungsstörung beim Kind. Funktioniert zwar, hat aber langfristige Folgen!

Sich selbst freundlich behandeln

Ein reifes und erwachsenes Kümmern um sich selbst braucht vermutlich den Blick auf kindliche und unreife Ansprüche an das Leben. Die fühlbare Unterscheidung von Selbstmitleid und Selbstmitgefühl kann hilfreich sein. Gut mit sich selbst umgehen schließt den guten Umgang mit anderen unbedingt ein, sonst handelt es sich wohl eher um Ausbeutung, eine „me first“-Haltung oder Ellenbogenkonkurrenz. Sich selbst freundlich zu behandeln muss nicht in völliger Autarkie geschehen. Es ist absolut möglich und sinnvoll, in voller erwachsener Selbstverantwortung auf andere zuzugehen, und sie um etwas zu bitten oder mit ihnen etwas zu gestalten, was alleine nicht möglich ist: Nähe, Hilfe, Kontakt, gemeinsames Tun.

Dieser Zugang, dieses Kümmern um das Gefühl des zu kurz gekommen seins mit der Möglichkeit, hinein zu spüren und Untergründe bei sich selbst zu erfahren, lässt dieses Gefühl vergehen. In den Sitzungen frage ich dann nach und bekomme die Antwort, dass es im Augenblick gut ist, kein zu kurz gekommen gefühlt wird.

Verbindung mit anderen führt zum Gefühl der inneren Fülle

Eine andere Möglichkeit, die in der Gruppentherapie häufig entsteht, ist die Veränderung des Gefühls durch Verbindung mit den anderen. Hier kann ich regelmäßig beobachten, dass Teilnehmer, die sich eben noch als Zukurzgekommene erlebt haben, ab dem Augenblick, in dem sie emotional und mit Mitgefühl bei einem anderen Teilnehmer andocken, sich z.B. für ihn interessieren, ihn unterstützen, sich selbst genährt und bereichert fühlen.

Dazu ist in der Regel die Authentizität des anderen Teilnehmers notwendig. Wenn ein Teilnehmer die Aufmerksamkeit manipulativ oder demonstrativ auf sich zieht, klappt es mit der Verbindung mit ihm meist nicht, und es kann dann eher zu ablehnenden Haltungen kommen. Da aber die Verbindung das wesentliche heilende Prinzip zu sein scheint, bleibt dann häufig das eigene Gefühl, selbst zu kurz gekommen zu sein, weiter bestehen.

Manchmal aber können wir sogar die hinter dem manipulativen Verhalten stehenden wesentlichen Bedürfnisse beim anderen begreifen. Wenn dieses Verständnis entsteht, dann fällt die Verbindung zum anderen auch wieder leicht. Und dann fühlen sich alle in der Runde genährt und wohl.