Mystik statt Glaube

(Lesedauer ca. 3 Minuten)

Man könnte mich als Mystiker bezeichnen: Ich glaube an nichts. Ich sehe hin. Ich mache Erfahrungen. 

Ein geschriebenes Wort ist nicht die Wahrheit

Buchreligionen, die die Wahrheit kennen, sie in einem „Heiligen Buch“ niederschreiben und damit festlegen, betrachte ich mit etwas skeptischem Abstand. Zwar kann ich den Autoren der heiligen Schriften in den verschiedenen Religionen gut zugestehen, dass sie nach bestem Wissen und Gewissen der damaligen Zeit schrieben. Das geschriebene Wort aber zu einer absoluten Wahrheitsinstanz zu machen, finde ich eher aberwitzig.

Erfahrungen statt Glauben

Im spirituellen Leben geht es darum, Erfahrungen zu machen. Es geht nicht darum, etwas zu glauben. Irgendwo steht bestimmt geschrieben, dass man den Göttern vertrauen soll. Das kann man glauben. Etwas ganz anderes ist es, eine Erfahrung des Vertrauens und der Hingabe zu machen, die dann zu einem tiefen Bewusstsein des Aufgehobenseins führt. Das ist eine Ganz-Körper-Geist-Erfahrung – einschließlich des Gefühls natürlich.

Mystische Erfahrungen habe ich spontan, in der Meditation, bei der Sexualität und in Ausnahmesituationen gemacht. Diese Erfahrungen fließen, ob ich will oder nicht, in meine psychotherapeutische Arbeit hinein. Hier wirkt z.B. meine Gewissheit, dass das Leben dazu da ist, sich dem Leben hinzugeben – ohne Widerstand und ohne Wenn und Aber. Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst. Das Erleben von Sinn ist für mich eine spirituelle Erfahrung, keine rein psychologische oder kognitive Erkenntnis. Das Denken und Bewusstsein mag dazu kommen, greift aber meist zu kurz. 

Ich habe viel gelesen (wer mag das bezweifeln:-)?!). Dabei ist mir aufgefallen, dass viele geachtete Autoren und Kenner auf spirituellem Gebiet ähnliches sagen oder schreiben. Seit 3000 Jahren hat sich an der Essenz nichts geändert. Die Ähnlichkeiten sind mir kognitiv aufgefallen. Ich habe zeitweilig daran geglaubt. Jetzt glaube ich nichts mehr. 

Am besten glaubt man nichts

Mit einer mystischen Erfahrung verhält es sich anders. Das, was vorher Kopfwissen oder einfach Wunschdenken war, wird zu einer Gewissheit. Loslassen, vertrauen, sich hingeben, dem Fluss des Lebens folgen – dass das so stimmt und wahr ist, ist erst mit der Erfahrung unumstößlich. Dann muss man auch nichts mehr glauben. Am besten glaubt man gleich nichts. Und am besten glaube mir nichts!

Nun wissen manche Menschen mehr als andere. Ihre Einsichten sind tiefer. Sollen wir ihnen glauben? 

Ich halte es da mit Aldous Huxley. In „Ewige Philosophie“ schreibt er sinngemäß, dass wir manchen Menschen, die uns vorausgehen, schon vertrauen dürfen. Ihre Erfahrungen und unsere Erfahrungen decken sich bis zu einem bestimmten Punkt. Wir sprechen also vom gleichen. Warum sollten sie dann über das lügen, was sie außerdem an Einsichten eingesammelt haben? Das rechtfertigt etwas Vertrauen. Es ändert aber auch nichts daran, dass das Leben dazu da ist, eigene Erfahrungen, auch im spirituellen Raum, zu machen. 

Selbst leben

Das ist übrigens eine große Gefahr für Psychotherapeuten: Sie sitzen immer als Zuhörer in der ersten Reihe bei wahnsinnig interessanten und spannenden Erfahrungen – anderer Leute! So vergessen sie leicht, dass es ja im Leben um die eigene Lebendigkeit geht. Es ist ein bisschen wie bei Fernsehzuschauern. Statt selbst zu lieben kann man natürlich das Theater der Seifenopern mit dem ganzen Drama und der ganzen Romantik ansehen. Wie schal! Und schade.

Welchen Weg wählen?

Wie macht man also Erfahrungen? Wie sieht man hin? Und wie es ist mit Wegen, die zu einer spirituellen Erfahrung führen sollen? Wie z.B. Meditation? 

Erfahrungen hält das Leben bereit. Das ist einfach, oder? Hinsehen ist schon schwieriger: Wir lügen uns allzu gerne in die eigene Tasche, sind blind und taub, wir verdrängen und verleugnen. Hinsehen bedarf der Übung. Dafür ist z.B. die Technik der Meditation da: Genau hinsehen ohne zu werten. Es gibt auch andere Wege.

Ganz praktisch kann man sich auf einen Weg machen, den andere schon gegangen sind. Vertrauensvoll, aber natürlich immer mit offenen Augen und wachem Verstand! Man kann einiges ausprobieren. Wenn man ausprobiert, dann kann man sich 3 Monate (bei täglichem Üben) Zeit geben, bevor man entscheidet, ob der gewählte Weg für einen selbst geeignet ist. Um dann anhand der gemachten Erfahrung zu entscheiden, wie man weiter verfährt: weiter üben oder einen anderen Weg versuchen.