Lebendigkeit

(Lesedauer ca. 2 Minuten)

Träume können die Erfahrung von Lebendigkeit im aktuellen Leben wirksam verhindern

Vor vielen Jahren habe ich einer klugen Frau ein Buch mit dem Titel „Lebe deinen Traum“ mitgegeben. Sie reichte es mir zurück: „Das ist nichts für mich!“. Heute verstehe ich sie sehr gut.

Was bedeutet es, seinen Traum zu leben? Der Autor wollte bestimmt die Menschen ermutigen, das zu tun, wonach ihnen ist, und ihre Ängste zu überwinden, um das zu tun, was sie in der Tiefe wollen. Auch ich will nicht sagen, dass es nicht gut sei, seinen Herzensangelegenheiten nachzugehen und schöne Dinge zu unternehmen.

Der Satz „Lebe deinen Traum!“, wie er in jedem Taschenratgeber und Selbstfindungsseminar  zur Maxime des Handelns erhoben wird, regt mich immer wieder zum Denken und Widerspruch an. Man kann den Satz nämlich auch anders verstehen: Jetzt lebe ich meinen Traum nicht, später kann ich ihn leben. Hier kann ich ihn nicht leben, dort nur ist das möglich.
Und wenn ich meinen Traum lebe, was ist, wenn er beendet ist? Wie ist dann das Leben? Soll ich das Leben in ein Traum-Leben und in ein Alptraum-Leben oder Wach-Leben einteilen?

Lottogesellschaften werben damit, Träume zu verkaufen. Dann wird der Zustand nach dem Loskauf vollends zum Scheinleben, meine ich. Bis bei der Ziehung der Traum zerplatzt und das Vor-Traum-Leben weiter geht. Dieses Vor-Traum-Leben (das eigentliche Leben jetzt!) bezeichnen manche als ein Elend, und der Loskauf verstärkt diesen Zustand.

Seit langem spreche ich von Lebendigkeit und vom Leben so, dass jeder nur und immer 100% lebendig ist. Du kannst Leben oder Lebendigkeit nicht ansammeln und später ausgeben. Vielleicht kann man den Lebensausdruck drosseln und eine vita minima leben. Dann sagen die Menschen: „Das ist doch kein Leben!“ Oder ist das dann eben die volle Lebendigkeit?

Wenn ich eine Begegnung z.B. in einer Therapiesitzung, Gruppentherapie (wie gerade erst gestern) oder im Freundeskreis habe, die wie ein Tanz ist, miteinander, voller Bewegung und Stille und Kraft und Fühlen, und ich frage dann unvermittelt: „Was ist Dein Traum? Was willst Du? Was ist der Sinn des Lebens?“ ernte ich Verständnislosigkeit. Jetzt ist alles gut und richtig, und die Antworten lauten: „Jetzt will ich nichts, ich habe keinen Traum, ich lebe!“. Den gleichen Zustand kann man beim Umgraben des Gartens, beim Operieren oder beim Meditieren erleben.

Im Sein löst sich die Frage nach dem Traum und dem besseren Leben auf und das Leben ist dann in seiner Fülle jetzt. Ich kann nicht mehr als da und lebendig sein.