Bewertung und Selbstabwertung

(Lesedauer ca. 3 Minuten)

Gestern sagte mir eine Teilnehmerin in der Gruppentherapie: „Ich will, dass Du mich gut findest. Ich habe Angst, dass Du schlecht über mich denkst, mich für unfähig und unreif hältst.“

Häufig frage ich in solchen Situationen: „Kommt das jemandem bekannt vor?“ (Alle in der Gruppe lachen!) „Gibt es jemanden, der diese Sorgen nicht hat?“ (Alle schütteln mit dem Kopf). Schon fühlt sich die Teilnehmerin nicht mehr alleine mit ihrem Thema. „Also dann: willkommen im Club!“

Diese Teilnehmerin will von mir bewertet werden. Natürlich hofft sie auf eine gute Bewertung, und sie fürchtet eine Abwertung. Und schon beginnen die Probleme. Sie macht sich womöglich abhängig von Bewertungen, von mir, von den anderen Teilnehmern der Gruppe, von anderen bedeutsamen Personen. Ihr Gefühl und Befinden schwankt dann im Wind der Bewertungen.

Die Angst vor der Abwertung zeigt, dass diese Frau Selbstabwertung praktiziert. Die Abwertung von einem Außenstehenden kann nur dann wirken, wenn sie innen auf eine Resonanz trifft. Wer sich nicht selbst wertet oder abwertet, ist ziemlich immun gegen Abwertungsversuche von anderen.

Nun haben wir alle gelernt, zu werten und bewertet zu werden. Das geht direkt nach der Geburt los (vielleicht schon vor der Geburt!?): „Du bist ein gutes Kind, wenn Du durchschläfst, gut trinkst“ etc. Auch Lob ist eine Bewertung. Das Kind klettert auf dem Gerüst nach oben und ruft den Eltern zu: „Schaut mal!“ und die Eltern antworten: „Toll!“ Dabei geht es dem Kind zunächst und vor den allmählichen Verformungen gar nicht um eine Bewertung. Der Wunsch des Kindes ist lediglich ein Gesehen werden. Die Eltern könnten antworten: „Ich sehe Dich!“ Das transportiert dann die vom Kind benötigte Verbindung mit dem Kind.
Aber da wir überall den Bewertungen ausgesetzt sind, verlangen wir sie bald selbst: Noten, gute Eingruppierungen bei der Mitarbeiterbeurteilung usw. Schüler und ihre Eltern geifern nach Bewertung in der Schule – einer guten natürlich –  sonst ist nämlich das Leben schon verhunzt!
Schließlich sind Bewertungen so normal, dass wir sie gar nicht mehr bemerken, und sie für völlig natürlich halten.

Es ist schwierig, sich ein Sprechen ohne Bewertungen vorzustellen. Jack Kornfield berichtete von einem buddhistischen Waldkloster in Thailand, in dem sich die Mönche zu einer bewertungsfreien Sprache entschlossen. Bald sprachen sie immer weniger, dann gar nicht mehr.

Kann man völlig bewertungsfrei sprechen? Kaum. Wenn ich sage: „Es regnet“ klingt schon eine Bewertung an, denn ich kann unterscheiden. Ich hätte ja auch sagen können: „Es nieselt“, „Es schüttet“ oder „Es tröpfelt“. Schon enthält die vermeintlich neutrale Beschreibung eine Bewertung, und was für den einen Regen ist, bedeutet für den anderen: „Oh, es frischt ein wenig auf!“.

Gut denn, dann also paradox und mit Bewertungen: Ich meine, dass es gut ist (eine Bewertung!), sich der Bewertungen bewusst zu werden und mit einem Kontakt ohne Bewertungen zu experimentieren! Das bedeutet für mich: mit dem sein, was ist. Was jetzt ist. Wenn ich spüre und wahrnehme und im Augenblick verweile, scheint der Moment bewertungsfrei zu sein. Wenn mich dann jemand nach meiner Bewertung fragt, z.B. auch meiner Selbstbewertung, holt er mich – wenn ich es zulasse – aus dem Zustand heraus, und nur dann kann ich bewerten. In dem Zustand selbst würde ich einfach sagen: „Oh, ich bin!“. Das fühlt sich friedlich an.

Kann man diesen Zustand auch erleben, wenn man im Alltag arbeitet oder etwas tut? Oder nur in besonderen Situationen, wie im Urlaub, oder in der Natur? Kann man sogar auf Bewertungen verzichten, wenn Gefühle wie Traurigkeit oder Schmerz auftauchen?

Die Gruppenteilnehmerin habe ich auf gemeinsame Erfahrungen in der Gruppe aufmerksam gemacht, als wir einfach da waren, in einem gemeinsamen Tun und Sprechen, das wie ein Tanz harmonierte. Schmerz war da, Traurigkeit war da, dann auch Freude, Kontakt, Humor und oft genug so etwas wie Ehrfurcht. Hier haben wir Verbundenheit erlebt – wir können es auch Liebe nennen – ohne dass Bewertungen wie „das ist ja unreif“ oder „neurotisch“ oder „superklasse!“ im Raum stehen.

Dies erleben dann alle als heilsam.

Du oder Sie können in dieser Gruppe oder hier einen Erfahrungsraum finden.