Groll und Bitterkeit auflösen – Wege zur Selbstliebe

(Lesedauer ca. 4 Minuten)

Nahezu jeder kennt Groll oder Bitterkeit und leidet darunter. Nach ein paar Überlegungen stelle ich eine Übung in Selbstliebe vor

In einer Gruppensitzung wollte jüngst ein Patient das Thema „Ich bin oft so nachtragend“ bearbeiten. Dabei ging es um einen seit Jahrzehnten bestehenden Konflikt mit den Eltern. Der Patient spürte Groll und Bitterkeit.

Wer leidet unter Groll und Bitterkeit am meisten?

Die Gruppe fragte rasch, wer denn unter Groll am meisten leide: Der Patient oder seine Eltern. Den meisten Menschen ist dann klar, dass sie selbst am meisten darunter leiden, und die anderen, derentwegen man so bitter ist, vielleicht gar keine Probleme damit haben. Sozusagen ein Klassiker aus dem Kapitel: „Wie schneide ich mir selbst ins Fleisch“.

Sollte nicht diese Einsicht schon dazu führen, dass man den Groll lässt? Manchmal gelingt das auch: „Ah, ich bin das ja selbst, der mir mit meinem Groll weh tut. Dann höre ich wohl besser auf, mir weh zu tun.“ Dazu gehört eine ganz klare Sicht, dass es wirklich ICH bin, der die Bitterkeit macht, und der sich SELBST dadurch Schmerzen zufügt. Das kann mit einer angemessenen Traurigkeit über das Erlebte von damals, z.B. die erlittene Verletzung, und einer angemessenen Traurigkeit über den sich selbstzugefügten Schmerz einher gehen. Sobald das passiert, ist die Bitterkeit vorüber.

„Der andere ist doch Schuld!“

Solange wir aber daran fest halten – und das ist der häufigste Fall! – das doch der andere wirklich und wahrhaftig an dem ganzen Schlamassel und damit an meinem Groll und dem Schmerz der Bitterkeit schuld ist, stecken wir fest. Ziemlich unbeweglich und möglicherweise über Jahrzehnte.

Wir haben uns gefragt, was dann zu tun ist. Könnten wir dem anderen, den Eltern z.B., einfach verzeihen und alles wäre gut? Ist das Verzeihen etwas, was wir überhaupt willentlich tun können, oder muss es von selbst geschehen? Und wie kommt es zustande?

Anerkennung

Bei genauerer Betrachtung fällt uns auf, dass wir uns im Groll wünschen, dass das Gegenüber – z.B. die Eltern – das von uns mit den bitteren Gefühlen adressiert wird, endlich unseren Schmerz anerkennt. Die Eltern sollen uns in unseren verletzten Gefühlen wahrnehmen und anerkennen bzw. sich dazu bekennen, dass sie den Schmerz verursacht haben. Wir wünschen uns, dass sie Mitgefühl mit uns haben, und Mitgefühl mit dem Zustand, den sie verursacht haben, und sich dafür von Herzen und mit großer Wahrhaftigkeit entschuldigen. Wir wollen spüren, dass es ihnen wirklich Leid tut. Dann könnten wir verzeihen. Manche Eltern können das, mit großer Weite und Klarheit, und das tut richtig gut.

Selbstmitgefühl

Wenn nun die Eltern das nicht machen? Wenn sie gestorben sind? Sie dazu nicht in der Lage oder willens sind?
Dann hilft es wohl, wenn wir für uns selbst in die Bresche springen, und Selbstmitgefühl mit uns haben. Dabei geht es nicht um Selbstmitleid, sondern um Selbstliebe, die in eigener Sache all die erlebten Gefühle anerkennt. Die Gefühle von damals wie Wut und Traurigkeit, und die Gefühle von heute, die Bitterkeit. Selbstliebe bedeutet, dass das alles in uns genauso sein darf, nichts davon anders sein muss, und sich nicht einmal etwas daran ändern muss. Man spürt diese Qualität in der Weite des Brustraums und der Entspannung. Sie kann von einem Seufzen und Ausatmen und einem tief erlebten Loslassen begleitet sein.

Eine Selbstmitgefühlsübung zum mitmachen

Es gibt eine schöne Übung zum Selbstmitgefühl und zur Selbstliebe, die ich oft anleite und empfehle. Sie dauert vielleicht 15 min. Hier also mal zum Mitlesen und Selbermachen:

Szene wählen

Du suchst Dir eine Szene, für die Du Dir Mitgefühl mit dir selbst wünschst. Etwas, was wirklich schwierig war für Dich, und immer noch schmerzt.

Helferfigur suchen

Dann brauchst Du eine innere Helferfigur. Sie muss ein paar verlässliche Eigenschaften haben, sonst ist sie nicht geeignet:
Du musst dir ganz sicher sein, dass sie es nur gut mit dir meint, und Du musst ganz sicher sein, dass sie nicht an dir herummachen mag, dich also nicht verändern mag, sondern du genau so sein kannst, wie du nun mal bist.
Beide Eigenschaften sind enorm wichtig und nicht verhandelbar.

Gut geeignet sind Großmütter oder Großväter. Sie haben oft die Fähigkeit der Liebe ohne sie mit Forderungen an ein bestimmtes Sein oder Verhalten zu stellen. Wenn sie gestorben sind, um so besser, denn im Reich der Toten sind sie noch einmal weiser geworden, und können nun besonders leicht von jedem eigenen Egoismus absehen.

Es eignen sich aber auch alle andere Menschen, auch wenn wir sie nur flüchtig kennen, wenn wir einmal erlebt haben, dass sie es wirklich gut mit uns meinten, und uns nicht verändern wollten.

Wenn es keine entsprechende Menschen für dich gibt, nimmst Du Fabelwesen, wie z.B. Fuchur, der weiße und weise Glücksdrache aus der Unendlichen Geschichte, oder ein Tier. Auch Orte, die du mit Geborgenheit und Angenommensein verbindest, sind geeignet. Manche Menschen mit viel Mühen in der Kindheit habe sich spontan Orte in der Natur ausgesucht, die zu Kraftplätzen wurden, wie Plätze im Wald, im Garten oder Bäume.
All das ist geeignet für die Übung.

In Kontakt mit der Helferfigur gehen und spüren

Jetzt gehst du mit geschlossenen Augen in eine Vorstellung, in der du Kontakt mit dieser Helferfigur gehst. Du stellst dich beispielsweise gegenüber hin oder schaust ihr in die Augen. Dann schilderst du ihr innerlich dein Problem, z.B. hier die Bitterkeit.

Und nun beobachtest Du, wie die Figur reagiert, was sie tut, welche Geste sie macht, wie sie schaut. Sie könnte dich z.B. in dem Arm nehmen und etwas sagen, einen Satz, der dir etwas bedeutet.

Sobald die Helferfigur ihre Reaktion beigetragen hat, spürst du in dich und fühlst, was das in dir auslöst., Das kann etwas sein wie eine Rührung, ein sanftes Gefühl im Bauch oder eine Weite in der Brust oder was auch immer. Etwas Gutes und Schönes jedenfalls.

Dieses Gefühl, das ist es, worum es bei der ganzen Übung geht. Das ist deine innere Kraftquelle, deine Ressource. Das saugst du auf und nimmst es vollständig wahr. Und schaust, wie es mit dem Problem geht, wenn es in Kontakt mit dieser Ressource kommt. Was ist aus der Bitterkeit geworden?

Tägliche Übung

Wenn dir das geholfen hat, dann nimm dir jeden Tag Zeit, diese Übung für 10 min zu machen. Und immer bis zu dem Punkt, wo die Kraftquelle spürst. Nur das ist relevant, das Gefühl, die Emotion. Die Gedanken alleine helfen nichts. Das ist auch der Grund, warum Affirmationen und Autosuggestionen wirkungslos sind: Wenn man kein Gefühl dabei hat, sind sie saftlos und nützen nichts!

Ich kenne mich mit der Übung aus und habe sie 18 Monate täglich ohne einen Pausentag gemacht. Immer bis zum gespürten Gefühl. Immer 10 min. Erst dann war der Zustand wirklich verinnerlicht und die Übung damit dann nicht mehr notwendig.

Das soll dir nur als Hinweis dienen, wie lange es dauern kann, bis alte Muster überschrieben sind. Es kann länger dauern als es dauert, mit der anderen Hand noch einmal in Spiegelschrift schreiben zu lernen, bis es so flüssig ist, wie jetzt mit deiner Schreibhand.