Zunehmende Distanzierung in der Beziehung von Vater und Tochter als Folge eines Tabus

(Lesedauer ca. 2 Minuten)

Sexueller Missbrauch und Übergriffe in der Familie werden zum Glück seit einigen Jahren offen thematisiert und nicht mehr geleugnet.
Hier weise ich auf ein Problem hin, das entsteht, wenn der Vater auf alle Fälle verhindern will, dass es zu einem Übergriff kommt.

Beziehung zum Vater wird vermisst

In einer Weiterbildung für Ärzte (eine fortlaufende Selbsterfahrungsgruppe im Rahmen der Facharztausbildung), die ein paar Jahre zurückliegt, hatte eine fast 40-jährige Teilnehmerin von ihrer Vaterbeziehung gesprochen. Sie litt sei langer Zeit unter der ihr nicht erklärbaren Distanzierung des Vaters seit ihrem 13. Lebensjahr. Der Schmerz hatte sie seither nicht mehr losgelassen. Ihr Bruder hingegen hatte eine erkennbare Nähe zum Vater, die sie vermisste.

In der Gruppe haben wir die Ursachen für diesen Schmerz und das Verhalten des Vaters erforscht. Mit folgender Erklärung war die Ärztin auf einen Schlag sehr entlastet, wenn auch traurig:

Der Vater, der sich seiner Gefühle zur Tochter nicht sicher ist

Der Vater, so erläuterte ich, habe seine Tochter vermutlich sehr geliebt. Mit der Entwicklung der Tochter zur Frau sei es aber für ihn schwierig geworden, mit seinen erotischen Gefühlen klar zu kommen. Das habe z.B. eine Rolle gespielt, wenn die Tochter mit ihm habe kuscheln wollen.  In seiner Liebe habe der Vater aber auf Fälle verhindert wollen, dass etwas sexuelles oder erotisches zwischen den beiden aufkeime. Er habe sich dann nicht anders zu helfen gewusst, als sich überhaupt und in Gänze von der Tochter zu distanzieren und sich ihrer Wünsche nach Nähe damit zu entziehen.

Distanzierung wegen Angst vor eigener Grenzüberschreitung

Die Ärztin konnte den Vater nicht dazu befragen, denn er war schon verstorben. Aus Gesprächen mit Männern weiß ich jedoch, dass sich Väter von Töchtern durchaus auch erotisch angesprochen fühlen können. So erklären sich ja auch Übergriffe durch Väter. Etliche dieser Männer gaben an, dass sie sich lieber abrupt und heftig von den Töchtern zurückgezogen hätten, um bloß die Entwicklung der Tochter nicht zu stören, sogar, wenn sie sich sicher waren, dass sie selbst nie und nimmer zu Übergriffen in der Lage gewesen wären.

Ein wichtiges Tabu kann unreflektiert schaden und  zur Tragik führen

Das Tabu, das dafür sorgt, dass Kinder nicht von den Eltern durch Übergriffe verletzt werden, sorgt hier tragischerweise auch dafür, dass eine Verletzung durch Distanzierung entsteht, über die quasi nicht gesprochen werden kann. Viele erwachsene Frauen erzählen mir, wie schade es sei, dass sie nur von ihren Müttern gehört hätten, der Vater liebe sie, aber der Vater es nie habe direkt sagen können.

Erotik als Lebendigkeit?

Vielleicht wäre es ein Fortschritt, wenn sich Väter erlaubten, die Gefühle zu spüren, die entstehen, wenn ihre Tochter zur Frau erblüht. Das Gefühl bedeutet ja noch lange keinen Handlungsimpuls. Vielleicht kann man ja auch Erotik, die in der heutigen Gesellschaft so sehr von der Sexualität eingenommen oder mit ihr gleich gesetzt wird, wieder als eine feine Form von Lebendigkeit, Freude und Lebenslust in einer Beziehung wahr nehmen, bei der es eher um ein Schenken als um ein Begehren und Nehmen geht. Vielleicht kann man sich über das strömende Leben in sich selbst freuen, ganz achtsam auf sich und den/die andere(n).