Ohnmacht und Verschwörungstheorie: „Ich will das so nicht haben!“

(Lesedauer ca. 5 Minuten)

Verschwörungstheorien: Man kann sie produzieren, um zu Macht und Einfluss zu kommen. Oder man hängt ihnen an, um seiner Ohnmacht zu entkommen und sich damit besser zu fühlen.

Verschwörungstheorien sind Abwehrreaktionen

Mich erinnern Verschwörungstheorien an unbewusste psychische Abwehrreaktionen.

Das funktioniert so: Die Wahrheit ist gelegentlich schwer zu ertragen. Wenn sie Ohnmachtsgefühle auslöst und zu Kontrollverlust führt. Oder weil man durch sie traurig oder wütend wird. Und sich vielleicht schuldig fühlt und beschämt ist. Dann braucht man eine gute Möglichkeit, die Gefühle nicht zu spüren, denn die tun ja weh und sind oft nicht erträglich. Indem man die Gefühle oder bittere Einsichten abwehrt, sind sie quasi nicht mehr existent, und so wird eine (scheinbare) Kontrolle über die Situation und über die Gefühle gewonnen.

Dafür gibt es zahlreiche Möglichkeiten. Man kann sie einfach leugnen, wie es vielleicht Schwerkranke machen, die den nahenden Tod ignorieren. Zuweilen sind diese Maßnahmen, die wir nicht mit der klaren Vernunft aussuchen und die unbewusst wirken, notwendig und funktional. Für Aussenstehende, die das beobachten, wirkt es natürlich irrational. Und oft führen sie zu einem anderen Leiden, also z.B. psychische Erkrankungen wir Ängsten, Depressionen oder Zwängen.

Weil nicht sein kann was nicht sein darf

Eine Verschwörungstheorie funktioniert genau so. Eine bestimmte Wahrheit („leider haben wir die Wahl verloren“) kann deswegen nicht stimmen, weil sie traurig und ohnmächtig macht und beschämt. Wenn die Wahrheit schön wäre („die anderen haben die Wahl verloren“) würde sie zu guten Gefühlen führen und man hätte nicht die geringste Notwendigkeit, etwas dagegen zu unternehmen. Nicht gegen das Gefühl und nicht gegen die Wahrheit. Man braucht also die Verschwörungstheorie („der Erdrutschsieg wurde uns gestohlen“), um die schwierigsten Gefühle zu vermeiden. Sie gibt einem auch über das geheime Wissen, über das man verfügt, eine scheinbare Kontrolle zurück. „Jetzt kenne ich mich aus!“ Entrüstung und Wut lassen sich so viel besser ertragen, und noch einmal leichter, wenn man damit eine Gruppe bildet. Einer Gruppe, die sich kollektiv schämt, mag man sich nicht anschließen, aber einer Gruppe beizutreten, die kollektiv wütend ist, erscheint schon recht attraktiv. Wut ist besonders in diesen Zeiten beliebt, in denen sich viele so überaus berechtigt sehen, sich gekränkt zu fühlen und das Recht für sich beanspruchen, dass bei einem eigenen Gefühl von Kränkung immer der andere in der Schuld steht. Oder es zum fast schon einzigen Ausdruck von Lebendigkeit geworden ist, wenn man Empörung zeigt.

Vermeidung von Erfahrung

Psychologisch geht es bei Verschwörungstheorien unter anderem um die Vermeidung von Erfahrung. Erfahrungsvermeidung (Im Englischen kann man unter „experiential avoidance“ die Suchmaschinen bemühen) ist die Grundlage von vielen Schwierigkeiten. Nehmen wir jemanden mit einer sozialen Phobie. Die unangenehme Schamerfahrung in einer Gruppe von Menschen wird vermieden, indem man nicht spricht oder sogar gar nicht hin geht. Die Angst vor der Gruppe kann so verringert oder vermieden werden. Der Preis ist natürlich, dass man sich immer weniger bewegen kann. Gruppen sind ja nun tabu, dann kann man nicht in die Fortbildung, zum Tanzen oder einkaufen gehen. Das entwickelt sich manchmal in einem Teufelskreis immer weiter, bis irgendwann die Schmerzen durch die geringe Bewegungsfreiheit sich mit den Schmerzen der Angst die Waage halten, was dann der minimale Kompromiss ist.

Vermeidung macht Symptome

Vermeidung von Erfahrung ist selbstverstärkend. Sie wirkt nämlich zumindest kurzfristig positiv. Wenn man Angst vermeidet, dann erscheint das Verhalten – also die Vermeidung – ja richtig, denn die Vermeidung hilft ja . Also wird es im Verlauf immer richtiger, z.B. nicht mehr einkaufen zu gehen. Die Angst wird durch Vermeidung zementiert.

Die Vermeidung von Erfahrung wird auch von Verschwörungstheorien praktiziert. Endlich kann man die Welt erklären, ohne sich so schlecht zu fühlen. Das wirkt. Das ist attraktiv. Das ist selbstverstärkend. Der Produzent von Verschwörungstheorien weiß das, und kann es deswegen für seine Machtinteressen ausnutzen – im leichtesten Fall zumindest für die Steigerung von Klicks und Likes.

Es gibt immer eine Möglichkeit, sich die Welt wahnhaft zu erklären

Nun hält sich die Wirklichkeit natürlich nicht an die Verschwörungstheorie. Aber vom Kontakt mit Menschen, die einen krankhaften Wahn entwickelt haben, weiß ich, dass es immer eine Möglichkeit gibt, die Welt durch mehr wahnhafte Ideen zu erklären, wenn die eigene Wahrheit (durch den Kontakt mit der Wirklichkeit?) irgendwie droht instabil zu werden. Die Argumente, die für mich logisch sind, und in der Lage wären, das Wahnsystem auszuhebeln, werden durch neue wahnhafte Erklärungen im Handumdrehen ausgehebelt. Und interessanterweise könnten alle wahnhaften Ideen irgendwie stimmen, wenn es auch manchmal abenteuerliche Konstruktionen braucht (wie bei Verschwörungstheorien). Der Nachbar könnte wirklich etwas gegen mich haben, oder ich könnte wirklich abgehört werden.

Wahn unterliegt kollektiven Vereinbarungen

Wahn ist argumentativ nicht einzuhegen und nicht einmal durch Beweise zu verändern („Schwerkraft gibt es nicht, ein gemeiner Mensch hat lediglich diesen Apfel mit einem unsichtbaren Faden zu Boden gezogen, und ich muss jetzt nur noch herausfinden, wie er das gemacht hat, klar ist jedoch, dass dieser Mensch gemein ist….“). Wer nicht im Wahnsystem ist, erkennt den Wahn durch seine komplexen Ausformungen und an der Art der immer neuen Wahnerklärungen. Der Wahn kann aber tatsächlich nicht ein für alle Mal oder prinzipiell weg erklärt werden. Soweit unterliegt er tatsächlich auch gemeinsamen kulturellen Übereinkünften. Wir glauben an Vodoo oder nicht. Wenn sich mit anderen Möglichkeiten, die Welt zu sehen, keine Überschneidungen mehr ergeben, sie nicht mehr gesucht werden und es sogar eine feindliche Ausgrenzung der anderen Sicht gibt, sind Wahnsysteme geschlossen und nicht verhandelbar.

„Was beweist, dass Du falsch liegst?“

Eine vernünftige Theorie von der Wirklichkeit, also z.B. die Beschreibung dessen, was man erlebt, ist nur dann redlich, wenn sie auch eine Aussage beinhaltet, wie sie als falsch erkannt werden kann (sie muss falsifiziert werden können). „Wenn ich immer nach Westen fliege, und dann von Osten wieder an die gleiche Stelle gelange, dann ist meine Theorie der flachen Erde falsch.“ Verschwörungstheoretiker vermeiden es tunlichst, solche Sollbruchstellen einzubauen oder gar zu testen. Sie faseln höchstens von neuen Begründungen, warum die Verschwörungstheorie doch richtig ist, sollte sie irgendwie ins Wanken kommen.

Loslassen und Akzeptanz

Statt des Glaubens an eine Verschwörung könnte man sich in die Gefühle schicken, die nun einmal auftauchen, wenn wir uns der Realität stellen. Das wäre dann Akzeptanz. Eigentlich eine richtig gute Sache, wenn es um psychische Gesundheit geht: Gefühle, Körperreaktionen, Gedanken so zu nehmen, wie sie kommen, um dann damit umzugehen. Offensichtlich aber eine schwierige Übung. Lieber als das Wort „Akzeptanz“ mag ich den Satz „es sein lassen, wie es ist“, was die Wahrnehmung von dem, wie es ist, beinhaltet.

Die Gefühle wahr zu nehmen, wie sie sind, bedeutet nicht, nichts zu tun. Die Reaktionen werden aber andere sein, als wenn man die Gefühle gar nicht erst fühlen mag. Traurigkeit muss nicht durch Wut oder Empörung verdrängt werden. Sie kann gefühlt werden, und man kann sich dann trösten lassen. Oder man kann bemerken, wie sie sich verändert, sogar wenn man nichts macht.

Nicht vermeiden, sondern sein Leben leben mit den Erfahrungen, wie sie eben kommen

Ein lebendiges Leben geht mit allerlei Gefühlen und Erfahrungen einher. Vermeidungsverhalten macht das Leben eng und (e)ängstlich. Ein lebendiges Leben zeichnet sich dadurch aus, dass man statt der rigiden Vermeidung von Erfahrung und Gefühlen einen kreativen Tanz mit den Erlebnissen des Lebens findet, in dem man nicht vorher weiß, welche Musik nachher gespielt wird und wie man darauf tanzen wird, weil der Tanz erst noch er- und gefunden werden muss.